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Der Künstler Boris Rabinovich (1938 - 1988)

1938 - 1988

 Der Künstler Boris Rabinovich, 1980er Jahre, Foto von Rolf Schaefer

 

Thema mit Variationen

 

Er war „atypisch“. Während der Schulzeit schwänzte er, rannte vor allem im Frühjahr vom Unterricht weg und sprang mit einem Freund beim Eisgang von Eisscholle zu Eisscholle. Der Lehrer nahm ihn am Genick und sagte einmal einen denkwürdigen Satz: „Solche Juden gibt es nicht“ . Im folgenden Frühjahr ertrank ein Freund während eines Eisgangs ... In seiner Klasse gab es einen anderen jüdischen Klassenkameraden, den Sohn eines berühmten Akademiemitglieds (und Sammlers, mit einer großen Privatsammlung von Falks Gemälden), der in jeder Hinsicht ein vorbildlicher Schüler war. Anscheinend wurde der Satz des Lehrers „solche Juden gibt es nicht“ geäußert, weil als Standardjude der Spross einer intelligenten, anständigen Familie galt.

Er war ein schlechter Schüler, insbesondere in Mathematik tat er sich schwer (diese genetische Besonderheit vererbte er an seine Kinder), aber von Kindheit an zeichnete er leidenschaftlich gern und besuchte ein Kunstatelier. Er erzählte, wie der Lehrer mit einer komischen Aussprache denen, die vor Unterrichtsende gingen, zurief: „Son? Gehst du son weg?!" Er hat den Unterricht im Atelier nie ausgelassen.

Sein Vater, der Leiter der Bahnstation Kuschelevka, der die exakten Naturwissenschaften und die Mathematik schätzte, hielt es wegen Borjas schlechter Noten für notwendig, ihn nach der siebenten Klasse von der Schule zu nehmen und auf eine Berufsschule zu schicken. Es war zwar keine einfache Berufsschule, aber „mit künstlerischer Ausrichtung“ – sie bildeten Tischler, zukünftige Restauratoren der Paläste von Zarskoje Selo, Pawlowsk usw. aus. Einmal trafen Boris und ich bei einem Besuch in der Eremitage seinen ehemaligen Klassenkameraden“ bei der Wahrnehmung seiner Amtspflichten“, Restaurierung von Türen im Schlosssaal. Boris‘ Erfolg im Handwerk war sehr gemischt: hervorragende Noten in Theorie und Zeichnen, aber schlechte Noten in der Praxis. Der Meister packte einen Hocker, den er gemacht hatte, am Bein und knallte ihn auf den Boden, sodass er in Stücke zersprang.

Doch das hielt nicht lange an: Sechs Monate später steckte Borja seine Hand in eine Maschine, eine Kreissäge, und verlor vier Finger seiner rechten Hand, sodass nur noch sein Daumen übrig blieb. Sein Vater saß im Krankenhaus neben seinem Bett und weinte. Borja, so die Koseform des Namens Boris, war damals 15 Jahre alt.
Nach dem Unfall ging Borja noch einige Zeit weiter in die Handwerksschule, wo er eigentlich nichts mehr zu tun hatte, alle fühlten sich irgendwie unbehaglich, seine Klassenkameraden, seine Lehrer und er selbst. Dann verließ er einfach freiwillig die Schule. Er ging zum Komsomol-Bezirkskomitee mit der Frage, was er jetzt tun solle. Sie sagten ihm: „Dein Vater ist Eisenbahner? Dann soll er dir eine Stelle als Schwellenstreicher besorgen.“ Allerdings ist der Vorschlag wiederum „mit einer künstlerischen Ausrichtung“. Boris legte seine Komsomol-Ausweis auf den Tisch und ging. Und selbst 1953 blieb das ohne Folgen– er konnte nicht tiefer fallen, einen Verweis konnte man nirgends hin richten, und es war unmöglich, ihn von irgendwo rauszuschmeißen. Seine Mutter verband seine Hand (er war ihr Lieblingskind, das älteste überlebende) zwei Jahre lang nach dem Unfall und nicht aus medizinischen Überlegungen. Er war es noch nicht gewohnt, seinen Handstumpf zu zeigen, und auf Fotos von damals trägt er immer seine rechte Hand in der Tasche.

Dann folgten mehrere Jahre seltsamen Engagements in der „holzverarbeitenden“ Sparte: Einige Zeit arbeitete er als Hilfsarbeiter in der Fabrik „Roter Oktober“ im Klavierbau. Eine Frau, die gegen Bezahlung nach Stückleistung arbeitete (wie man damals sagte, „am Akkord“), legt ein Stück Holz in die Maschine, und ein Helfer auf der anderen Seite schnappt sich das Teil. Und so den ganzen Arbeitstag. Es gab immerhin die Möglichkeit, jede Stunde eine Rauchpause einzulegen, ganze fünf Minuten. Seitdem hat Boris sein ganzes Leben lang viel geraucht und schaffte es nie aufzuhören. Parallel zur Fabrik absolvierte er eine Abendschule und trat (wieder Holz!) in die Forstakademie ein. Als würde er davon verfolgt!

Doch im Alter von zwanzig Jahren begann er, seinen Weg zu finden – er trat in eine Architekturfachschule ein. Boris konnte nun sogar mit beiden Händen zeichnen: Als umgeschulter Linkshänder (damals wurde jeder zum „Rechtshänder“ umgeschult, was übrigens sehr schädlich ist) übertrug er gerne einen Bleistift oder Pinsel auf seine eigene natürlich „arbeitende“ linke Hand. Aber dank seines erhaltenen Daumens funktionierte auch seine rechte Hand einwandfrei. Später war er sowohl in der Bildhauerei als auch im Schnitzen von Gravuren sehr geschickt: Er übertrug das Werkzeug von einer Hand in die andere, je nachdem, was gerade bequemer war.
In seiner Jugend war er ein Sportler, er fuhr gerade deshalb Kanu, weil klassisches Rudern mit zwei Händen auf einem Kajak nicht möglich war. Lebte wochenlang im Vuoksa-Gewässersystem in einem Zelt allein auf einer Insel, es gibt dort unzählige davon, fing Fische und kochte auf einem Feuer. Heutzutage würde man ihn als Grünen bezeichnen.

Nach dem Abschluss der Architekturfachschule verbrachte er zwei Jahre in der altrussischen Stadt Weliki Ustjug im Norden, wo es die wunderbare Architektur des sogenannten Naryschkin-Barocks des 17. Jahrhunderts gibt. Und die Position des „jungen Spezialisten“ war nobel: CHEFARCHITEKT DER STADT WELIKIJ USTJUG. Die „Elite“ der Stadt, zu deren Kreis Boris gehörte, bestand aus ebensolchen „großen Spezialisten“, insbesondere dem Direktor der Likör- und Wodkabrennerei 1). Sie kamen ebenfalls von außerhalb und lebten in enger, herzlicher Gemeinschaft im einzigen Hotel der Stadt. Doch im Gegensatz zum Rauchen, einer schlechten Angewohnheit von klein auf, sprach Boris glücklicherweise dem Alkohol nicht zu. Nach seiner Rückkehr in seine geliebte Stadt Leningrad arbeitete er in Architekturbüros, jedoch keineswegs als Chefarchitekt. In diesen Jahren lernte er einen Freund fürs Leben kennen, den wunderbaren St.- Petersburger Künstler Evgeny Uchnaljow. Doch Boris‘ Drang, Kunst außerhalb der Architektur zu studieren, ließ ihn nicht los. Mehrmals versuchte er, in die Leningrader Vera Muchina-Höhere Kunst- und Industrieschule einzutreten, auf die Fakultät für Industrieästhetik, wie Design damals zwecks Vermeidung von Verwestlichung genannt wurde.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er bereits am Allunions-Forschungsinstitut VNIITE, das damals im Gebäude des Michailowski-Schlosses untergebracht war. Und schließlich wurde er 1967, im reifen Alter von 29 Jahren, als Student an der Fakultät für Industrieästhetik angenommen. Dies war keine Ausnahme; die meisten Studenten an der „Mucha“, wie das Institut liebevoll (zu deutsch: 'Fliege') genannt wurde, waren knapp unter oder sogar über dreißig. Hinter ihnen lag kein einfacher Weg zur höheren Kunstausbildung2).

Boris verfügte über scheinbar unvereinbare Eigenschaften: einerseits eine außergewöhnliche Intuition (ich werde Beispiele nennen) und andererseits über die Unfähigkeit, einige gewöhnliche Fertigkeiten zu beherrschen. Mathematik als Teil des Schullehrplans wurde bereits besprochen. Mit Kenntnissen in mindestens einer Fremdsprache war die Situation nicht besser. Boris lernte Deutsch in der Schule und auf der Hochschule. Er verbrachte zehn Jahre in Österreich, wo man, wie bekannt, Deutsch spricht. Trotzdem hatte Boris bis zuletzt Schwierigkeiten mit der Sprache, die er mit Charme und außergewöhnlicher Geselligkeit bravourös meisterte. Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Boris liebte es, die Stadt Salzburg zu besuchen, durch die engen Gassen zu schlendern, die auf und ab laufen, und neue Ecken für sich zu entdecken. Bei einem seiner ersten Besuche schlenderte er, wie immer ohne Reiseführer und Stadtplan, in einen malerischen Hinterhof. Und plötzlich öffneten sich die Fenster zum Hof, eines nach dem anderen, und darin erschienen attraktive, junge Damen, die ihm deutlich einladende Zeichen gaben. Boris, der in der Mitte des Hofes stand und sich an alle Damen gleichzeitig wandte, holte schweigend seine leeren Taschen hervor, woraufhin das Interesse an ihm ruckartig nachließ und die Fenster eines nach dem anderen zuklappten.

Ich möchte eine anekdotische Geschichte erzählen, die eine wichtige Eigenschaft von Boris veranschaulicht. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns bereits kennengelernt und waren ein Paar geworden 3). Wir nahmen Aufträge von Organisationen entgegen, die oft so geheim waren, dass es ohne besondere Erlaubnis unmöglich war, dorthin zu gelangen. Dennoch wollte die Geschäftsführung entweder zur steuerlichen Abschreibung oder zur Dekoration ihrer Räumlichkeiten ein „perspektivisches“ Bild der Produktionshallen bekommen. Das heißt, wir erhielten Zeichnungen einer Halle, die wir noch nie betreten hatten, in drei Projektionen: einer „Draufsicht“ (Grundriss) und zwei „Seitenansichten“. Von uns wurde erwartet, dass wir ein Bild anfertigen, das nach den Gesetzen der Perspektive konstruiert und in schwarz-weiß mit Tusche ausgeführt ist. Am Eingang des Gebäudes dieser Geheimorganisation, das wir natürlich nie betreten haben, auf der Sadovaja (also der Garten-Straße), wurde ein Treffen angesetzt. Zwei Leute kamen heraus, um zu verhandeln: Boris‘ Bekannte aus dem VNIITE und ein älterer Mann in Zivil (ich erinnere mich sogar, nicht in einer Jacke, sondern in einem grauen Pullover – „Hemingway“-Mode der sechziger Jahre). Der Mann im Pullover war ein „Big Boss“ und stand, wie ich vermute, entweder in direkter Verbindung zur Militärabteilung oder zu den „Organen“ (dem Geheimdienst); alle, auch unser Kontaktfrau, behandelten ihn mit großer Ehrfurcht. Wir einigten uns auf alle Bedingungen und Fristen für die Einreichung, und am Ende drückt Borja plötzlich seinen Finger direkt auf den Bauch des ehrwürdigen alten Mannes, der in einen grauen Pullover gehüllt ist, dreht mehrmals seinen Finger und sagt: „Ich mag diesen Opa!“ Eine stumme Szene, wie im Schlussbild von Gogols Stück „Der Revisor“. Alle Teilnehmer, außer Boris, erstarren vor Entsetzen, ich auch vor Verlegenheit über dieses für die Situation unangemessene Verhalten... Wir haben jedoch trotzdem den Auftrag bekommen. Auf dem Rückweg frage ich Boris, warum er sich so unangemessen verhielt; ich, ein braves Mädchen, habe mich damals furchtbar geschämt, und er sagt: „Ich weiß selbst nicht, was über mich gekommen ist. Ich wollte es einfach tun.“ Diese Episode spiegelt eine sehr wichtige Eigenschaft von Boris wider: seiner inneren Intuition trotz äußerer Unlogik zu folgen. Dann, ein paar Jahre später, würdigte ich sein Handeln: So wie ein Hofnarr dem Monarchen unangenehme Dinge sagen durfte, für die ein anderer mit dem Kopf hätte bezahlen müssen, so verletzte er in diesem Moment die Aura der Ehrfurcht vor dem „Opa“.

In ihm war eine Art Kompass eingebaut: Einmal musste Boris, schon als „freier Designer“ (dazu später mehr), in einem großen Gebäude, das er zum ersten Mal betrat, einen Auftraggeber finden, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Diesmal war die Organisation nicht geheim, es gab keine Kontrolle bei Eingang und es gab niemanden, der nach dem Büro des Kunden fragen konnte. Borja beschrieb mir, wie er durch die Gänge ging, irgendwo abbog, hin- und herirrte und schließlich an eine der vielen Türen klopfte. Er betrat einen Raum mit zwei Schreibtischen, an einem davon saß ein Mitarbeiter und der andere Tisch war leer. Auf die Frage, wie man den und den findet, zeigte der Mitarbeiter auf den unbesetzten Tisch und antwortete: „Er ist gerade hinausgegangen, kommt aber bald zurück.“ Ein interessanter Punkt: Boris machte in seiner Kommunikation den Eindruck eines sehr offenen, fröhlichen, optimistischen Menschen ohne Hang zur Melancholie, während in seiner Arbeit ganz andere Züge deutlich zum Vorschein kamen. Die Bilder biblischer Figuren, geheimnisvolle Masken und die späte Serie  «Jedermann»4) sind zutiefst symbolisch, oft tragisch. Das Jedermann-Thema findet man in seiner Malerei, seinen Zeichnungen und seinen Skulpturen immer wieder.

Ein solcher Dualismus war keineswegs Doppelzüngigkeit oder Unaufrichtigkeit; in Boris existierten gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche Welten – die reale Umgebung und der innere Schaffensprozess.

Schon in Russland hatte sich Boris biblischen Themen des Alten und Neuen Testaments zugewandt. Abraham, Moses, Hiob, Kain und Abel existieren in seinem Werk neben Jesus, Maria und Jakob. Für Boris gab es keine Trennung zwischen diesen beiden Weltreligionen.

Nach und nach bildete sich ein Kreis von Lieblingsfiguren heraus: Mozart, Rembrandt, Puschkin. Die ersten beiden sind zweifellos bereits in Wien auf heimischem Boden „entstanden“, Mozart geradezu selbstverständlich und Rembrandt dank dreier bemerkenswerter Selbstporträts im Kunsthistorischen Museum. Natürlich kannte er die berühmte Gemäldesammlung Rembrandts in der Eremitage, aber es waren diese späten Selbstporträts im Wiener Museum – das erste wehrte sich noch gegen die drohende Katastrophe, das zweite zeigt den Künstler schon gebrochen und das dritte ihn bereits erloschen – diese drei Bilder berührten Boris so sehr, dass ihm in diesem Museumssaal die Tränen in die Augen kamen. Eine seltene Reaktion auf die bildende Kunst und eine so häufige auf die Musik – ein interessantes Phänomen.

Diese Nähe zu Rembrandt führte zu einer großen Serie von Ölgemälden auf Leinwand, Mischtechniken auf Papier und Radierungen. Nicht nur Wiederholungen der Originale, sondern ein interessanter Vergleich, sei es mit seinem eigenen Selbstporträt oder mit der Kombination aus Malewitschs schwarzem Quadrat und der dahinter „versteckten“ Silhouette, in der Rembrandt zu erkennen ist. Er liebte Puschkin sowohl als Dichter als auch als Person. Darüber hat er nie gesprochen, aber es scheint mir, dass er sich irgendwo charakterlich mit ihm verglich: nicht mit seinem Talent, sondern mit seinem Charakter, schelmisch und tragisch zugleich.

In der Welt des Kinos liebte er Charlie Chaplin und Fellini. Wir konnten Chaplin in Leningrad sehen, seine Filme wurden im "Kinematograph"-Kino gezeigt, aber Fellini wurde, abgesehen von "La Strada" und vielleicht "Die Nächte der Cabiria", nicht in den großen Kinos gezeigt. Ein Analogon zum Leningrader „Kinematograf“ ist in Wien das Filmmuseum Albertina, wo man hervorragende Zyklen sehen kann, seien es Filme einzelner Regisseure oder eine Auswahl nach Zeit, Land oder Genre, zum Beispiel Musikfilme. Hier sahen wir uns alle Filme von Fellini an, sowohl seine alten Filme im Kinomuseum als auch die, die in den 80er Jahren in großen Kinos liefen, „Stadt der Frauen“, „Und das Schiff segelt weiter“ und die „Orchesterprobe“.

Die Wehrlosigkeit der Helden der Filme von Chaplin und Fellini ähnelte Boris, obwohl er es sorgfältig verbarg, dass ihm die Charaktere in den Filmen dieser Regisseure näher standen als diejenigen aller anderer Regisseure.

 

 

Eine Variation zum Thema „Seine Ateliers“

 

Als Boris 1973 schließlich sein Studium an der Muchina-Hochschule abschloss5) und den Titel eines Kunst-Designers erhielt, gründete er zusammen mit ein paar Kollegen eine Gruppe von freiberuflichen Designern – damals eine Seltenheit. Da er und seine Kollegen auf ihrem Gebiet bekannt waren, erhielten sie Aufträge von staatlichen Unternehmen (von wem auch sonst Mitte der siebziger Jahre in der UdSSR?) und realisierten sie gemeinsam als kleines, freundschaftliches Team in einem von ihnen gemieteten Atelier – einem Keller auf der "Petrograder Seite". Dadurch konnte Boris seine Zeit viel freier einteilen als in seinem Vollzeitjob in der VNIITE und er konnte viel Zeit seiner eigenen Kunst widmen. Früher hatte er natürlich auch hin und wieder zwischen Abendkursen am Institut und vollem Arbeitspensum gezeichnet und gemalt, aber schon rein physisch konnte dieser Teil seines Lebens nicht dessen Hauptteil ausmachen. Boris mietete ein kleines Atelier unweit jenes Hauses in der vierten Linie (wie die Querstraßen dort heißen) der Wassiljewski-Insel, wo wir drei mit unserer Tochter Julya in einem einzigen Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung lebten. Die Adresse des gemieteten Ateliers lautete bezeichnenderweise Repin-Gasse, benannt nach dem großen Ilja Repin! Damals begann zum ersten Mal in seinem Leben eine Phase professionellen Schaffens im Bereich der Kunst.

Nochmals ein wenig zu den „Wohnverhältnissen“: Nachdem wir zunächst einige Monate in Wien in einer Auswandererpension zubrachten, konnten wir bald eine Wohnung mieten und es dabei handelte sich nicht einmal um eine Gemeinschaftswohnung! Für mich, meine Mutter und Julya, unsere damals achtjährige Tochter, war es das erste Mal, dass wir Küche, Bad und Toilette nicht mit den Nachbarn teilen mussten! Eine Revolution im Bewusstsein, ohne Übertreibung. Die erste Wohnung war klein, zwei Zimmer und ein Kabinett. Dies gab Boris keine Gelegenheit, zu Hause als Künstler zu arbeiten; bald wurde unsere jüngere Tochter geboren und wir waren bereits zu fünft. Boris machte sich auf die Suche nach einem Atelier. Er tat dies, wie fast alles im Leben, rein intuitiv: Er blätterte nicht in Zeitungsannoncen, kontaktierte keine Wohnungsvermittlungsstellen (auch weil seine Deutschkenntnisse damals noch in den Kinderschuhen steckten), er spazierte durch die Stadt, schaute in die Höfe und wählte für sich das zukünftige Atelier, wie ein Tier, das nach einem Bau sucht. Wenn ihm die Umgebung gefiel, fragte er nach der Adresse der Hausverwaltung und begab sich direkt dorthin, um zu verhandeln, ob dort eine kleine Wohnung zu einem akzeptablen Mietpreis zu finden sei.

Und tatsächlich fand er schon bald, im Jahr 1982, ein Atelier ganz nach seinem Geschmack: eine knapp 20 Quadratmeter große Dachwohnung im Margaretner Schloss, einem Gebäude aus dem 16. Jahrhundert im fünften Wiener Bezirk. Während der ersten Belagerung Wiens durch den türkischen Sultan Suleiman leistete dieses Schloss den Türken verzweifelten Widerstand! Wenn es auch nicht die Repin-Gasse auf der Wassiljewski-Insel war, war es doch ein historisch bemerkenswerter Ort! Zu der Zeit, als Boris das Atelier bezog, war das Schloss im Verfallen, obwohl es „den Stempel seiner früheren Schönheit“ trug. Das Atelier selbst ähnelte stark einer Gefängniszelle: Das einzige kleine Fenster mit Blick auf den Innenhof war vergittert, da der Eingang zur Wohnung über eine Galerie erfolgte, die die Hofseite des Hauses umgab, und die Nachbarn vorbei an seinem Fenster auf die einzige, gemeinsame Toilette gingen. In Österreich wird eine solche Galerie „Pawlatsche“ genannt, ein Wort slawischen (tschechischen) Ursprungs. Aber Boris gefiel sein neues Atelier sehr gut und er arbeitete darin auch großartig. Auch sein Freund und Mitkämpfer von der Ausstellung im Newski-Kulturpalast in Sankt Petersburg, der Künstler Anatoly Basin, der das erste Jahr der Emigration aus der Sowjetunion in Wien verbrachte, bevor er schließlich nach Israel ging, schätzte das Atelier und sagte respektvoll, dass hier eine "Atmosphäre einer Zelle" 6) herrsche. Das war höchstes Lob!

Die Hauptwerke von Boris7) entstanden hier, im Margaretner Schloss, das dem Wiener Bezirk Margareten, in dem wir seit 1978 leben, seinen Namen gab. Boris verbrachte viel Zeit im Atelier, außer in den kältesten Wintermonaten, während derer die „Zelle“ nicht beheizt werden konnte. Dann zog Boris in dieser Zeit in unsere neue Wohnung, gemietet im selben Stadtteil wie das Atelier. Die Wohnung war selbst für Wiener Verhältnisse riesig und es gab genug Platz für alle: zwei Kinder, meine Mutter, uns beide, und es gab auch einen Raum, den Boris auch als Atelier nutzen konnte. Er wurde süchtig danach, während der Arbeit klassische Musik zu hören, was mir in Leningrad an ihm nicht aufgefallen war. Und natürlich war es zuallererst Mozart, wie könnte man in Österreich ohne ihn auskommen!

Leningrad, 1973, Boris wurde zum „freien Künstler“, er konnte erstmals über seine Zeit selbst verfügen. Von diesem Moment an ging alles rasend schnell: Arbeiten in verschiedenen Techniken der Malerei und Grafik, Bildhauerei, Teilnahme an Gemeinschaftsausstellungen nonkonformistischer Künstler in der UdSSR, Begegnung mit Künstlern dieses Kreises. Der wunderbare Leningrader Künstler Alek Rapoport wurde ein enger Freund; sie stellten gemeinsam auf der „Wohnungsausstellung“ der Aleph-Gruppe aus. Die Freundschaft war sehr intensiv, aber nur von kurzer Dauer: Bereits 1976 wanderten Rapoport, seine Frau und sein Sohn mit einem israelischen Visum in die USA nach San Francisco aus. Gleichzeitig begann aufgrund des „Klimawandels“ in Bezug auf antisowjetische Kunst, sei es bildende Kunst, Theater oder Literatur, ein regelrechter Exodus von Kunstvertretern. In der Praxis gab es nur einen legalen Weg zur Auswanderung: die Ausreise mit einem israelischen Visum aus der UdSSR, nicht unbedingt nach Israel, sondern auch in die USA, Australien oder in westeuropäische Länder. Alek Rapoport, der (zumindest in den Anfangsjahren) in Kalifornien Heimweh hatte, wünschte sich inständig, dass Boris, falls er sich zur Auswanderung entschloss, nach San Francisco kommen würde. Und am Ende entschied Boris: Sein nächster Brief an Alek enthielt den bedingten Satz „Misсha ist an Windpocken erkrankt.“ Es handelte sich um eine verschlüsselte Anfrage, eine Einladung mit dem Stempel des Staates Israel zu senden. Ich stelle fest: Derselbe Satz war in zwei weiteren Briefen an Freunde enthalten, die etwas früher abgereist waren, und als Ergebnis erhielten wir DREI Einladungen! In einem Fall kam bereits vor Erhalt eines Einschreibens mit offiziellem Papier aus Israel eine Antwort von unserem Freund: „Die Kinder sind krank, sie müssen behandelt werden.“ Die Erlaubnis zur Ausreise aus der UdSSR wurde schnell erteilt; die Familie wurde weder durch den Militärdienst des einzigen männlichen Vertreters (Boris war aufgrund seiner verstümmelten rechten Hand seit seiner Jugend vom Militärdienst befreit) noch durch den Zugang zu Geheimorganisationen belastet. Wir haben das Risiko vermieden, in die Kategorie der „Abgelehnten“ (russisch: otkazniki) zu fallen. Dies war die Bezeichnung für diejenigen, die ihre Absicht verrieten, die „unzerstörbare Union der freien Republiken“ zu verlassen, die „für immer durch die große Rus geeint“ war (Worte aus der inzwischen nicht mehr aktuellen Hymne der Sowjetunion) und bei diesem Ansinnen eine Ablehnung zu erfahren. Ihre Situation war wenig beneidenswert, sie konnte über Jahre dauern und mehr oder weniger erfolglos enden. Wir hatten, kann man sagen, Glück. Allerdings ist der Stress eines überstürzten Abschieds von allem, was das bisherige Leben ausgemacht hatte – Familie, Freunde, die geliebte Stadt, die russische Kultur und die russische Sprache – kaum zu überschätzen. Und hinter all diesen Trennungen stand der Begriff „für immer“.

Unsere Familie – Boris, ich, unsere siebenjährige Tochter Julya und meine Mutter, E.P. Gomberg-Werzhbinskaja – kamen am 7. Dezember 1977 in Österreich an.

Die erste Einzelausstellung in der Wiener Stadtgalerie Euroart eröffnete zwei Monate nach unserer Ankunft in Wien. Sie zeigte Werke, die in Leningrad entstanden waren, einer Kommission des Kulturministeriums unterzogen, von dieser bewertet und dem Staat abgekauft wurden. Lenin sagte auch: „Kunst gehört dem Volk.“ Also kauften wir unsere Bilder dem Volk ab. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, was für ein Glück das war: Zwei in Österreich unbekannte Künstler gingen mit einer Werkmappe unter dem Arm von der Straße weg, von niemandem vertreten, in drei Galerien in der Altstadt und ALLE drei erklärten sich bereit, ihre Werke auszustellen. Wir wählten die Galerie, die uns den nächstgelegenen Eröffnungstermin für die Ausstellung bot, nämlich Mitte Februar 1978. Boris war sich nicht sicher, ob wir in Österreich blieben würden und nicht, wie erwartet, weiter nach Kalifornien auswandern würden, wo Alek Rapoport auf ihn wartete. Also machten wir Halt in der Euroart-Galerie der Stadt, direkt gegenüber der Albertina, der berühmten Grafiksammlung. Der Leiter der Galerie, Herr Gerhard Habarta, war von Boris‘ Werk beeindruckt, aber auch meine ganz frühen Arbeiten gefielen ihm. Dann äußerte er einen Satz, der mich (aufgrund meiner schlechten Deutschkenntnisse) etwas erschreckte: „Und wir werden Ninas Werke in der schwarzen KAMMER zeigen.“ Damit war ein kleiner Raum in der Galerie gemeint, dessen Wände mit schwarzem Stoff verkleidet waren (auf Deutsch heißt ein kleiner Raum „Kammer“, und das klingt wie das russische „kamera“, also Gefängniszelle).

Das Ergebnis dieser Ausstellung waren keine besonders erfolgreichen Verkäufe, sondern Rezensionen in allen wichtigen Zeitungen, positiv oder kurz informativ. Eine Rezension in der "Kronenzeitung", einer sehr viel gelesenen Boulevardzeitung, weinte uns jedoch Krokodilstränen etwa so nach: Hinter dem Eisernen Vorhang kommt es ihnen so vor, als wären sie Nonkonformisten und der Westen würde ihnen zu Füßen fallen. Aber in Wirklichkeit zeigen sie uns nichts Neues, sie verlassen ihre angestammten sicheren Plätze und sitzen dann in Armut in europäischen und amerikanischen Städten. Es endete mit dem Satz „Es kann einem menschlich leid tun ...“.
Das erinnert alles sehr an die jetzigen Haltung seitens der Konservativen gegenüber Flüchtlingen. Das wichtigste Ergebnis dieser Ausstellung in der Euroart-Galerie war jedoch etwas anderes: Wir haben einfach viele Bekanntschaften sowohl aus dem österreichischen Umfeld als auch mit vorübergehend in Wien lebenden Emigranten gewonnen, von denen viele Freunde fürs Leben wurden. Die logische Schlussfolgerung daraus war die Entscheidung, nicht weiter zu migrieren, sondern in Wien, Österreich, in Europa zu bleiben. Und das erwies sich angesichts der liberalen Zeiten auch als möglich: Österreich war zu Zeiten des Kanzlers Kreisky äußerst tolerant zu Emigranten.

Variation zum Thema „Entscheidungen treffen“

 

Es gab eine wichtige Eigenschaft in Borjas Charakter – Entscheidungen zu treffen. Und dafür die volle Verantwortung zu tragen. Eine wertvolle Eigenschaft, die nicht jeder hat. Ein Beispiel: Nach dem Tod seines Vaters Israel Rabinovich im Jahr 1974 stellte sich heraus, dass das Grab seiner Mutter, Boris‘ Großmutter, auf dem jüdischen Friedhof verloren gegangen war. Aus irgendeinem Grund war es entweder schwierig oder unmöglich, in einem neuen Grab begraben zu werden; es war notwendig, im Grab von Verwandten „begraben“ zu werden. Und eben Boris war es, der auf einen freien Platz im angegebenen Teil des Friedhofs zeigte (die Nummer ging verloren) und erklärte, dies sei das Grab der Großmutter. So hat wohl Moses auf der Suche nach dem Gelobten Land während der vierzigjährigen Wanderung einen Stab in die Wüste gesteckt, dank dessen eine Quelle an diesem Ort hervorquoll. Und so wurde dieser Fleck zum neu entdeckten Familiengrab: Nach dem Tod von Boris‘ Mutter im Jahr 1985 wird Boris selbst drei Jahre später dort seine letzte Ruhe finden; mehr dazu später.

Aber hier ist ein ganz anderes, „lebensbejahenderes“ Beispiel: Im 20. und insbesondere im 21. Jahrhundert machen junge Menschen, die sich kaum kennengelernt und verliebt haben, ihrer Freundin selten einen Heiratsantrag. Ich erhielt 1968 buchstäblich beim dritten Treffen einen derartigen Antrag, ein Jahr später heirateten wir tatsächlich und blieben bis zu Boris‘ Tod im Jahr 1988 zusammen.

Auch die Entscheidung zur Auswanderung und damit zum Verbleib in Österreich, dem ersten Land, in dem Boris und seine Familie nach der Ausreise aus der Sowjetunion gelandet sind, war natürlich in erster Linie SEINE ENTSCHEIDUNG. Und wir, seine Familie, haben uns nach ihm gerichtet.

DAS FINALE

Von dem Moment an, als er die UdSSR verließ, um auszuwandern, waren Boris vom Schicksal noch zehn Lebensjahre beschieden. Zunächst freuten wir uns über die Möglichkeiten, die sich uns als Bürgern der „freien Welt“ eröffneten: Reisen durch Europa – bitte, vorausgesetzt, wir hatten Geld (bzw. hätten welches gehabt). Das Fehlen jeglichen ideologischen Drucks, zumindest auf den ersten Blick, die Freiheit, in der Kunst religiös oder Atheist, „Abstraktionist“ oder „Realist“ zu sein. Eine durchaus erfolgreiche berufliche Laufbahn. Neue Freunde kamen hinzu, besonders erwähnen möchte ich einen von ihnen, der Boris besonders nahe stand: den Künstler Michail Kulakow, der sich kurz vor unserem Umzug nach Österreich in Italien niederließ. Allerdings verfolgte Boris mehr als jeden anderen in unserer Familie eine bedrückende Nostalgie. Es fällt mir schwer, eine Erklärung zu finden, warum er es war und nicht zum Beispiel meine Mutter Eleonora Petrowna, die 65 Jahre in Russland lebte und nicht nur lebenslange Freunde, sondern auch ihren Job an der Universität hinterließ, wo sie nach 40-jähriger Lehrtätigkeit immer noch angestellt blieb, obwohl sie bereits im Ruhestand war. Faktum ist jedoch, dass Boris mehr unter der Trennung litt als wir alle.

Der Beginn der Perestroika. Für diejenigen, die das Land mit einem israelischen Visum verlassen haben, ist es nun möglich, Russland als Touristen zu besuchen. Im März 1988 eilte Boris ohne zu zögern nach Leningrad. Das erste Treffen seit zehn Jahren mit Verwandten (alle bis auf die drei Jahre zuvor verstorbene Mutter waren damals noch in Russland; später wanderten die Familien der Schwester und eines Bruders nach Israel aus). Boris traf nach und nach Freunde und Kollegen und wurde von ihnen begeistert aufgenommen. In jenen Jahren waren solche Besuche bei Exilanten eine erstaunliche Neuheit. Seine geliebte, „bis zu Tränen vertraute“ Stadt, Zitat aus einem Gedicht von Osip Mandelstam (damals noch mit dem Namen Leningrad, das erst drei Jahre später zu seinem ursprünglichen Namen Petersburg zurückkehren sollte) verblüffte Boris mit ihrer Schönheit und verletzte ihn durch die Spuren des Niedergangs jener Jahre. In kurzen Telefonaten zu uns in Wien erzählte er freudestrahlend von seinen Begegnungen und Eindrücken.

Von dieser Reise kehrte Boris allerdings nicht mehr zurück, ein Herzinfarkt beendete sein Leben, er war fünfzig Jahre alt. Boris ist im Grab seiner Eltern auf dem jüdischen Friedhof Preobrazhenskoye in St. Petersburg begraben. In jenem Grab, das er für seinen Vater ausgewählt hatte ...

Im Frühjahr 1991 fand im Anna-Achmatova-Museum, im sogenannten Fontänenhaus (russ.: Fontannyj dom), eine posthume Ausstellung von Boris Rabinovich statt. Im Jahr 2007 wurden dort Gemälde der drei KünstlerInnen der Familie Rabinovich-Werzhbinsky, Boris, Julya und Nina, gezeigt. Die Ausstellung trug den Titel „Trace Paintings“ bzw. „Bildspuren“. Das Jüdische Museum in Wien veranstaltete 25 Jahre nach seinem Tod im Jahr 2013 eine Ausstellung von Boris Rabinovich unter dem Titel „meeting jedermann: rabinovich revisited“. Im zu dieser Ausstellung erschienenen Katalog wurde einer der beiden Artikel von Boris‘ älterer Tochter, der Schriftstellerin Julya Rabinowich, die auch die Ausstellung kuratierte, verfasst.

Nina Werzhbinskaja-Rabinowich, 2021, Wien

Übersetzung ins Deutsche: Heinrich Pfandl

 

 

 

 

Anmerkungen

1) Die AG „Velikoustyug Distillery“ ist eines der ältesten Unternehmen der Branche und wurde 1901 gegründet. Mit einer mehr als 109-jährigen Geschichte ist das Unternehmen im gesamten russischen Norden und weit über seine Grenzen hinaus für seine Produkte bekannt. Heute ist die AG ein modernes Unternehmen, das mehr als 35 Arten alkoholischer Produkte herstellt: Wodka, süße und bittere Liköre, Balsame, Aperitifs und Dessertgetränke.

2) Boris studierte die ersten zwei Jahre als Vollzeitstudent und schaffte es irgendwie, weiterhin bei VNIITE zu arbeiten, der Ort war einer der besten für sein Fachgebiet und auch ein Einkommen war notwendig. Es war sehr schwierig und schließlich musste er in die Abendabteilung wechseln, was bedeutete, dass die Dauer seines Studiums ein Jahr länger war, sechs Jahre im Vergleich zu fünf Jahren Vollzeitstudium. Gleichzeitig beteiligte sich Boris an interessanten Projekten bei VNIITE, ich möchte nur die wichtigsten nennen – die Turbinenhalle des Wasserkraftwerks Assuan in Ägypten und das Wasserkraftwerk in Djerdap-Eisernes Tor, Jugoslawien. Sein Name stand unter diesen Projekten, aber die Namen des Abteilungsleiters und der leitenden Forscher waren immer mit ihm verbunden, und er war immer noch „nur ein Student“. Außerdem durfte er als Jude und Parteiloser nicht ins Ausland reisen: Und es gelang ihm nie, ins Ausland zu reisen und die Umsetzung seiner Entwicklungen mit eigenen Augen zu sehen. Jetzt ist es kaum noch vorstellbar: Boris‘ erste Auslandsreise war eine private Einladung von Freunden in die DDR im Jahr 1976. Er war damals 38 Jahre alt.

3) Ich stand in der Galerie im Jugendsaal (einem riesigen Festsaal der Muchina-Schule, eine Art falsche Renaissance des Eklektizismus in der Architektur) und schaute auf einen bärtigen Schüler, der älter war als ich, der unten malte in der Halle. Als wir uns auf den Fluren trafen, schaute er mich an. Ich fragte ein Mädchen aus seinem Jahrgang, wer das sei. Sie sah mich durchdringend an und sagte: „Sein Name ist Borja Rabinovich und ER IST VERHEIRATET!“ Aber beim nächsten Treffen antwortete der bärtige Student in einem Gespräch mit einer anderen gemeinsamen Freundin von uns auf ihre Frage, wie es ihm ginge, und wandte sich aus irgendeinem Grund nicht an sie, sondern an mich: „Ich bin geschieden!“

4) „Jedermann - Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist ein Theaterstück von Hugo von Hofmannsthal, das 1911 in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt uraufgeführt wurde. Seit 1920 wird dieses Stück jährlich bei den von Reinhardt und Hofmannsthal in Salzburg gegründeten Salzburger Festspielen aufgeführt. Von 1920 bis 2021 fanden die Salzburger Festspiele jährlich statt, außer von 1937 bis 1946. (Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland und die Jahre des Zweiten Weltkriegs). In Analogie zum spätmittelalterlichen Mysterium von Hans Sachs, 1549, „Von dem sterbenden reichen Menschen, Hekastus genannt“ und anderen ähnlichen Mysterien aus etwa derselben Zeit, sowie späteren Variationen eines Themas aus der frühen Neuzeit, „Jedermann, Homulus“. „Im Stück erscheinen folgende Charaktere: Gott, Teufel, Tod, Mammon, Glaube. Der reiche Jedermann steht plötzlich vor dem Tod und wird von einer Jury vor Gericht gestellt. Niemand, weder Diener, noch Freunde, noch sein Geld, kommt Jedermann zu Hilfe oder verabschiedet ihn in seiner letzten Stunde. Und nur der Glaube hilft ihm, als reuiger Sünder friedlich ins Grab hinabzusteigen. Dieses Stück ist zum Symbol der weltberühmten Salzburger Festspiele geworden. Jedermann ist zu einem Begriff geworden. Boris Rabinovich fühlt sich in seinen zahlreichen Interpretationen (Malerei, Skulptur, Grafik) im Jedermann von dem abstrakten Menschenbild ohne Angabe von Alter, Nationalität, Geschlecht, spezifischen individuellen Merkmalen angezogen – das ist jedem von uns gemeinsam.

5) Boris Rabinovich erlitt seinen ersten Herzanfall genau nachdem er seinen Abschluss an der Vera Muchina Hochschule für Angewandte Kunst gefeiert hatte, und leider blieb die Herzkrankheit von da an bis zu seinem Lebensende bestehen.

6) Etwas vorausgreifend möchte ich sagen, dass diese „Zelle“ 33 Jahre lang in unserer Familie registriert war, das heißt, Borja hat sie acht Jahre lang bis zu seinem Tod gemietet, dann wurde der Vertrag für einige Zeit auf meinen Namen umgeschrieben und unsere ältere Tochter Julya lebte dort in ihrer Punk-Hippie-Jugend. Am Ende fand der neue Eigentümer des Hauses, der das Gebäude restaurierte und aus dem verzauberten Schloss eine modische „Immobilie“ machte, einen Trick, mit dem unser alter Vertrag für die Wohnung gekündigt wurde. Der Geist von Boris schwebte jedoch nicht mehr im neuen, gewaschenen und polierten Margaretner Schloss, und wir haben den Verlust nicht so schwer ertragen.

7) In den Jahren 1978-1988 beschäftigte sich Boris unglaublich viel mit Malerei und Bildhauerei, beherrschte die grafischen Techniken der Radierung, Aquatinta und Kaltnadel, nahm als Theaterkünstler am Donaufest in Grein teil, illustrierte Bücher, u. a. den Roman „Psalm“ von Friedrich Gorenstein in der Erstausgabe, München, hrsg. Land und Welt (das Buch erhielt einen Preis für die beste Gestaltung eines russischen Buches im Ausland). Reisen nach Italien, Israel, in die Schweiz und in viele Städte Deutschlands, sowohl im Zusammenhang mit Ausstellungen als auch um die Schätze der Weltkultur nicht aus Büchern, sondern mit eigenen Augen kennenzulernen, wurden für ihn zu einer großen Bereicherung, war er doch bis 1976 „für Auslandsreisen ungeeignet“. Wenige Jahre nach seiner Ankunft in Österreich wurde Boris Mitglied der Künstlerhausvereinigung, wo 1984 seine persönliche Ausstellung stattfand.


Werke von Boris Rabinovich befinden sich in folgenden Sammlungen:
Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
Graphische Sammlung Albertina, Wien
Anna-Achmatova-Museum im Fontänenhaus (russ. Fontannyj Dom), St. Petersburg
„Puschkinskaja 10“, Museum für nonkonformistische Kunst, St. Petersburg
Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Wien
Artothek des Bundes
BAWAG Bank, Wien
Zimmerli Art Museum, Rutgers University, New Jersey, USA
Museum für moderne Kunst, Lissabon
Bibliothek für seltene Bücher und Spezialsammlungen, University of Notre Dame, Indiana, USA
Privatsammlungen in Österreich, USA, Deutschland, der Schweiz, Israel und Russland.

Boris Rabinovich steht vor seinen Werken in der Ausstellung „Nonkonformistische Kunst“ im Newski-Kulturpalast, 1975.

Boris Rabinovich vor seinen Bildern in der Ausstellung der nonkonformistischen Künstler, Haus der Kultur Newsky, Leningrad, 1975

 

Julya, Boris und Nina in der Stadt Wyborg kurz vor der Emigration, 1977.  Foto von Jewgenij Uchnaljow.

Julya, Boris und Nina in der Stadt Wyborg kurz vor der Emigration, 1977. Foto von Jewgenij Uchnaljow.

 

„Jedermann“  Künstler Boris Rabinovich. Papier, Mischtechnik, 1984.  Puschkin-Straße 10, Museum der nonkonformistischen Kunst, Sankt Petersburg

„Jedermann“ Künstler Boris Rabinovich. Papier, Mischtechnik, 1984.
Puschkin-Straße 10, Museum der nonkonformistischen Kunst, Sankt Petersburg

 

Boris Rabinovich steht vor einem Haustor mit dem Türklopfer  in Form eines Löwenkopfes

Boris Rabinovich